Interview

Kunst erweitert unseren Gedankenhorizont – genau wie die Medizin

Kunst trifft Medizin: Professor Dr. Jan Galle, Präsident des DGIM-Kongresses 2025, und Dr. Oliver Kornhoff, Direktor des Museums Reinhard Ernst (mre), beleuchten eine außergewöhnliche Zusammenarbeit. Für den 131. Internistenkongress dient das Gemälde „Albuquerque #7“ von Richard Diebenkorn als visuelles Leitmotiv – ein Bild, das Resilienz und Perspektivwechsel symbolisiert. Erstmals können Kongressteilnehmende das nahegelegene Museum Reinhard Ernst besuchen, das vor sieben Monaten eröffnet wurde. Im Interview berichten die beiden von der Entstehung dieser Kooperation, ihrer Bedeutung für die Medizin und den kreativen Impulsen, die Kunst für Wissenschaft und Gesundheit bieten kann.

Herr Professor Galle, Herr Dr. Kornhoff, seit einigen Jahren wählt der Kongresspräsident der DGIM ein Kunstwerk des Museums Reinhard Ernst als Leitmotiv für den DGIM-Kongress aus. In diesem Jahr ist es das Gemälde Albuquerque #7 des amerikanischen Malers Richard Diebenkorn (1922–1993). Wie ist diese Idee entstanden? Was war die Initialzündung für diese außergewöhnliche Zusammenarbeit?

Dr. Oliver Kornhoff: Die Kooperation kam über die direkte Verbindung zwischen dem ehemaligen DGIM-Geschäftsführer Max Broglie und Herrn Ernst zustande. Erste Gespräche zwischen mre und DGIM wurden 2022 geführt, die Zusammenarbeit begann mit dem DGIM-Kongress 2023. Der Standort des Museums Reinhard Ernst schräg gegenüber vom RMCC, dem Austragungsort des DGIM, lud buchstäblich dazu ein, zusammenzuarbeiten. Auch, um bei den Teilnehmenden des DGIM die Vorfreude auf das mre als weiteren Anziehungspunkt in Wiesbaden zu schüren.

Das Museum Reinhard Ernst öffnete aber erst im Sommer 2024 seine Tore und wird damit zum 131. Internistenkongress erstmals auch für die Besucher des Kongresses offenstehen. Was erwartet sie und was zeichnet das Museum in besonderer Weise aus?

Dr. Oliver Kornhoff: Das mre hat seit seiner Eröffnung vor sieben Monaten über 100.000 Besucherinnen und Besucher nach Wiesbaden gelockt – eine Zahl, die uns freut und anspornt. Kongressteilnehmende können sich auf ein Haus freuen, das das Miteinander von Kunst, Architektur und Mensch feiert. Während des DGIM zeigen wir eine Weltpremiere: Mit der Ausstellung Helen Frankenthaler. Move and Make präsentieren wir zum ersten Mal Schätze der weltgrößten privaten Sammlung von Werken der amerikanischen Künstlerin – ein Must-See. In diesem Umfang sind die großformatigen Leinwandarbeiten von Helen Frankenthaler erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland zu sehen.

© DGIM/Bratulic

© DGIM/Bratulic

Herr Prof. Galle, Sie haben als Leitmotiv für den Kongress das Gemälde Albuquerque #7 von Richard Diebenkorn ausgewählt – welche Gedanken stecken hinter dieser Entscheidung? Warum ist es wichtig, dem DGIM-Kongress mit einem Kunstwerk ein visuelles Leitmotiv zu geben? Welche Wirkung erhoffen Sie sich davon auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer?

Prof. Galle: Als Leitmotiv für den Kongress 2025 habe ich das weit gefasste Thema Resilienz gewählt. Ich war dann neugierig, ob ich aus den mir vorgestellten Bildern überhaupt irgendetwas Konkretes zu dem Thema Resilienz ableiten könnte. Mit der Betrachtung der Bilder alleine schien mir dies schwierig beziehungsweise sehr abstrakt. Daher habe ich mich dann daran gemacht, die Beschreibung zu den jeweiligen Bildern zu lesen. Als ich dann zu dem von mir letztlich ausgewählten Bild gelesen habe, dass der Künstler dieses Bild gemalt hatte, nachdem er zum ersten Mal in einem Flugzeug geflogen war, genau gesagt, von Mexiko nach Kalifornien, und begeistert davon war, was das Einnehmen der Vogelperspektive für ihn bedeutete, war für mich die Auswahl klar. Denn die Gefühle, vom Boden abzuheben und die Vogelperspektive einzunehmen, was der Maler ja ausgezeichnet visualisiert hat, sind Gefühle, die mir aufgrund meines persönlichen Hobbys bestens vertraut sind.

Für mich bedeutet die Ausübung meines Hobbys „Fliegen“ Distanz einzunehmen von meinem Alltag und mich hundertprozentig einer einerseits fordernden, andererseits aber wunderschönen Tätigkeit zu widmen. Bei nichts anderem kann ich persönlich besser abschalten. Daher hatte ich direkt einen Bezug zu diesem Bild. Als ich das Bild dann näher betrachtete und auch mir die Farben genauer ansah, fiel mir eine weitere verblüffende Verbindung zu meinem eigenen Hobby ein: Denn ich selber fliege sehr gerne mit einer historischen Piper PA 18, die im Besitz meines Fliegervereins ist, und diese Piper hat die gleichen Farben wie die, die man auf dem Bild sieht, und hat noch dazu das gleiche Baujahr 1951. Damit war für mich die Geschichte und die Auswahl dieses Bildes sehr rund.

Herr Dr. Kornhoff, Sie haben ja nun schon einige Kongresspräsidenten der DGIM bei der Auswahl ihres Leitmotivs begleitet, auch die nächste Vorsitzende Professor Dagmar Führer-Sakel hat sich schon entschieden. Aus dem Nähkästchen geplaudert: Wie gestaltet sich der Prozess der Auswahl? Fällt die Entscheidung den Vorsitzenden leicht und wo sehen Sie Ihre Rolle?

Dr. Kornhoff: Erfreulicherweise nehmen die Kongresspräsidentinnen und -präsidenten das visuelle künstlerische Leitmotiv sehr ernst. Das jährliche Kongressmotto und die jeweilige medizinische Fachrichtung des/der Vorsitzenden prägen den Blick auf die Bildende Kunst. Es ist ein großes Vergnügen, zu erleben, wie sich unter diesen Aspekten aus unserer Vorschlagsliste ein Favorit herausschält.

Herr Prof. Galle, was bedeutet Ihnen persönlich Kunst? Sehen Sie Parallelen zwischen der kreativen Arbeit von Künstlern und den Herausforderungen in der Medizin?

Prof. Galle: Naja, Sie geben mir ja fast mit dieser Frage eine Steilvorlage zu der Behauptung, die ärztliche Kunst wäre auch eine Kunst. So sehe ich das aber nicht. Meine Arbeit am Patienten oder in der Wissenschaft als künstlerisch zu betrachten, hielte ich für vermessen. Eine Verbindung besteht aber natürlich darin, dass auch von einer Ärztin oder einem Arzt Kreativarbeit gefordert wird. Wir arbeiten nicht nur schematisch, sondern müssen manchmal die Gedanken auch ausweiten, um ein medizinisches Rätsel zu lösen. Auch der Umgang mit Patientinnen und Patienten fordert immer wieder kreatives Einfühlungsvermögen. Für mich persönlich bedeutet Kunst, meinen Gedankenhorizont zu erweitern, sei es durch das Eintauchen in einen anspruchsvollen Roman, durch das Betrachten von Bildern oder Gegenständen oder insbesondere Musik in allen ihren Varianten wahrzunehmen.

Herr Dr. Kornhoff, gibt es im Museum Reinhard Ernst Werke, die explizit medizinische oder wissenschaftliche Themen behandeln?

Dr. Kornhoff: Gerade wenn es um abstrakte Malerei geht, spielt die Wahrnehmung von Farbe eine besondere Rolle. Auch deshalb heißt unsere aktuelle Sammlungspräsentation Farbe ist alles! Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich explizit mit Farbpsychologie und -physiologie beschäftigt. In unserer Ausstellung sind hier besonders Hans Hofmann und Josef Albers zu nennen. Beide haben als Lehrende einige der wichtigsten US-amerikanischen Künstlerinnen und Künstler geprägt.

Das Museum Reinhard Ernst befindet sich in direkter Nachbarschaft zum RheinMain CongressCenter und lädt dazu ein, neben dem Kongressbesuch auch dieses neue Highlight der Stadt Wiesbaden zu besuchen. Wie können Teilnehmende des Kongresses profitieren?

Prof. Galle: In der Tat, das Museum Reinhard Ernst ist zu Fuß vom Kongresszentrum in 2 Minuten zu erreichen, und ich kann allen Teilnehmenden unseres Kongresses nur empfehlen, dort vorbeizuschauen. Alleine schon die Architektur ist einen Besuch wert, ganz zu schweigen von den ausgestellten Kunstwerken, oder auch den Konzepten, wie zum Beispiel junge Menschen angesprochen werden sollen.

Dr. Kornhoff: Ideen haben wir viele! Im ersten Jahr der Eröffnung hoffen wir, dass viele Kongressteilnehmende das neue Museum besuchen. Wir sind gespannt, mit welchen Wünschen sie an uns herantreten. Nach dieser Evaluation wollen wir gemeinsam mit den DGIM-Verantwortlichen über neue Formate nachdenken.

Welche Rolle kann Kunst aus Ihrer Sicht in der Medizin spielen – sei es als Inspirationsquelle, als Mittel der Kommunikation oder in der Gesundheitsförderung?

Prof. Galle: Die Beantwortung dieser Frage sprengt fast den Rahmen dieses Interviews. Wenn man im engeren Sinne zurückkommt zum Thema des Kongresses: Kunst in allen seinen Varianten kann resilientes Verhalten fördern. Das trifft für gesunde Menschen genauso zu wie für Erkrankte, und das Spektrum der Erkrankungen ist sicherlich weit, deswegen will ich hier gar nicht auf Einzelpunkte eingehen. Nur so viel: ein Schwerpunkt des Kongresses ist beispielsweise „Musik, Medizin und Resilienz“, und ich kann Ihnen nur empfehlen, die Sitzungen zu besuchen.

Dr. Kornhoff: Die Kunstwerke im mre und in der Sammlung Reinhard Ernst sind nach 1945 entstanden, somit ist keine der Arbeiten älter als 80 Jahre. Das bedeutet, dass sie sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die uns bestens vertraut ist – entweder aus eigener Anschauung oder weil Zeitzeuginnen und -zeugen uns darüber berichtet haben. Diese Vergegenwärtigung der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte mit Mitteln der Kunst gibt uns neue Denkanstöße – das finde ich ganz besonders reizvoll.